Der Fußball, so stellte die Times
am Tag darauf fest, habe schon
immer „einen dunklen Sinn für
Humor“ gehabt. Dieser Ansicht kann
man folgen, wurde doch das erste Tor
per Kopfball erzielt – in einem Spiel,
das nach dem Seitenwechsel eben-
solche komplett verbot und vor der
Pause nur in den Strafräumen zuließ.
Die Partie, die vor gut zwei Wo-
chen im englischen Spennymoor
unweit von Sunderland stattfand, ist
Teil einer Studie über das frühe Auf-
treten von Alzheimer und Demenz
bei Ex-Fußballern – untersucht wird
ein erhöhtes Risiko wegen Kopfbällen
und Luftduellen. Organisiert wurde
das Match von der Wohltätigkeits-
organisation Head for Change, zu
deren Unterstützern Stars wie Kevin
Keegan, Gary Lineker und Alan She-
arer gehören. Das Bewusstsein für
Gefahren sollte geschärft werden.
Die Begegnung offenbarte, wie
sehr ein Spiel ohne Kopfbälle den
Fußball verändern, man könnte auch
sagen: entstellen würde. Keine lan-
gen Bälle, kaum Flanken. Die Times
beschrieb es als ein „merkwürdiges
Schauspiel“, als das „Warten auf den
Ball, bis er auf den Boden fällt“.
Zur Einordnung des Spielorts
gehört, dass Kopfbällen im britischen
Fußball von jeher aufgrund des Spiel-
stils (einst kick and rush) schon im-
mer eine erhöhte Bedeutung zukam,
zudem der öffentliche Druck auf die
Politik extrem zunimmt, da mit Ray
Wilson, Martin Peters, Nobby Stiles
und Jack Charlton allein seit 2018
vier 66er WM-Helden mit Demenz
verstarben. Jacks Bruder Bobby ist
an Demenz erkrankt.
In der Blütezeit dieser Profis
wurde mit Lederbällen gespielt und
trainiert, die sich bei Regen – ja auch
nicht selten in England – mit Wasser
vollsogen und teilweise wie Kanonen-
kugeln auf die Köpfe fielen. Das ist
lange her, mit Leder haben heutige
Hightechbälle nichts zu tun. Aber
inwieweit korrespondieren Demenz-
erkrankungen mit dem Kopfball-
spiel? Besagte Studie aus Schottland,
bei der Wissenschaftler die Todes-
ursache 7676 männlicher Spieler
mit mehr als 230000 Zivilisten ab-
glichen, offenbarte, dass ehemalige
Profis eine etwa dreieinhalb Mal hö-
here Sterberate aufgrund neurodege-
nerativer Erkrankungen aufwiesen.
Warum? Das verriet die Studie nicht.
Professor Doktor Ingo Helmich
vom Institut für Bewegungstherapie
und bewegungsorientierte Präventi-
on und Rehabilitation an der Sport-
hochschule in Köln meint dazu: „Die
Studie ist besorgniserregend. Aber es
fehlt noch der konkrete Beweis, dass
die Sterblichkeit durch neurodegene-
rative Erkrankungen bei Fußballern
an den Kopfbällen liegt.“
Ebenso konnte die Studie
nicht den Lebenswandel
der Verstorbenen berück-
sichtigen, was im Kontext
dieser Erkrankung durch-
aus relevant wäre.
Auch Professor Doktor
Tim Meyer, DFB-Teamarzt der deut-
schen Nationalmannschaft, kennt
die Daten aus Schottland, klar. Auf
Anfrage äußert er sich dazu: „Sie
werfen einerseits Fragen auf, ande-
rerseits bedürfen sie einer Bestäti-
gung und Erweiterung.“ Gleichwohl
nimmt kein Mediziner dieses Thema
auf die leichte Schulter: „Sowohl die
UEFA als auch der DFB“, so der re-
nommierte Mediziner, „haben bereits
2020 gleichlautende Empfehlungen
herausgegeben, die eine Reduzierung
der Kopfbälle auf das notwendige
Minimum vorgeben. Die Initiative
ging in beiden Fällen von den in
den Medizinischen Kommissionen
vertretenen Ärzten aus. Seit über
fünf Jahren sind Kopfverletzungen
und Kopfbälle ständiger Tagesord-
nungspunkt dieser Gremien.“
Kein Wunder. Denn: „Bei ei-
nem Kopfball“, so schreibt das Ärz-
teblatt, „trifft der Ball mit dem 5- bis
60-fachen der Erdbeschleunigung
auf den Schädel des Spielers. In den
meisten Fällen bleibt der Zusammen-
prall zunächst folgenlos. Wieder-
holte Kopfbälle können im Prinzip
jedoch dieselben Folgen haben wie
die Schläge beim Boxen.“ Natürlich
zeitigt nicht jeder Kopfball, nicht je-
der Zusammenprall eine Verletzung,
schon gar keine Gehirnerschütte-
rung. Doch wichtig wäre es, bei einer
ebensolchen sofort aufzuhören. Das
Problem: Sie können nicht immer
sofort erkannt werden. Hilfreich ist
da, dass schon vor einigen Jahren
Ärzte der Klinik für Unfallchirur-
gie des Klinikums rechts der Isar
der TU München zusammen mit
US-amerikanischen Kollegen einen
Bluttest entwickelt haben, mit dem
sich einfach und schnell nachwei-
sen lässt, ob bei einem Sportler eine
Gehirnerschütterung vorliegt.
Auch an den Regelhütern des
Fußballs geht das Thema nicht
spurlos vorbei, ganz im Gegenteil.
Um bei einer Kopfverletzung den
Handlungsspielraum der Teams
zu erhöhen, hat das International
Football Association Board (IFAB)
eine Testphase gestartet. So kann in
vielen Verbänden, Ligen und Wettbe-
werben, darunter die Premier League
und die Ligue 1, das Wechselkontin-
gent bei einer Kopfverletzung erwei-
tert werden. Kein in dieser Weise
angeschlagener Akteur sollte auf
dem Feld bleiben müssen. Derzeit,
so Lukas Brud vom IFAB, sammle
man „Erkenntnisse“. Dass man das
Ganze ernst nimmt, zeigt sich
dadurch, „dass wir temporäre
Wechsel auf jeden Fall untersagen“.
Also: Ein bereits wegen einer Kopf-
verletzung Ausgewechselter sollte
auf keinen Fall wieder aufs Feld. Vor
allem sagt Brud mit Blick auf viele
laufende Studien zu diesem Thema:
„Wenn die Beweislage ergeben sollte,
dass man mit Kopfbällen aufhören
sollte, dann wäre das IFAB die letzte
Instanz, die das ablehnen würde.“
Und zwar ungeachtet dessen,
dass seit knapp 160 Jahren mit
Kopfbällen gespielt wird. Der Fuß-
ball zieht fraglos einen seiner vielen
Reize aus packenden Luftduellen
und Kopfballtoren. Allein in der Bun-
desliga fielen seit 1998/99 so knapp
4000 Treffer. Das Schwierige jedoch
ist eine Differenzierung, die man ei-
gentlich vornehmen müsste, die aber
kaum leistbar ist: Kopfbälle an sich,
so das Meinungsbild, sind nicht das
primäre Problem, sondern Zusam-
menstöße in der Luft. Nicht nur die
Fouls, sondern speziell unvorherseh-
bare Kollisionen, weil keine Zeit und
kein Raum zum Antizipieren, zum
Vorbereiten bleiben. Denn wird ein
Kopfball vernünftig ausgeführt, mit
sauberer Technik und angespannter
Nackenmuskulatur, verursacht er in
der Regel keine Verletzungen. Die
Zwickmühle: Ohne Kopfbälle gäbe es
wenig Veranlassung zu Luftduellen.
Der Profisport bildet buchstäb-
lich nur die Spitze der Pyramide.
Darunter firmieren die Amateure,
das noch breitere Fundament der
spielenden Kinder. Wie sieht’s dort
aus? Prof. Dr. Meyer sagt: „Eine Ge-
fährdung im Kinder- und Jugend-
fußball durch wiederholte Kopfbälle
während des Spiels scheint eher ge-
ring, wie eine von der UEFA geför-
derte Studie dokumentierte: sehr
niedrige Kopfballzahlen in acht eu-
ropäischen Ländern. Der DFB strebt
an, beim Juniorentag im Januar ein
Konzept zum Kopfballspiel und -trai-
ning im Kindes- und Jugendalter
vorzulegen. Wir werden kreativere
Lösungen für ein risikoarmes Spiel
präsentieren als ein Verbot.“ Darauf
darf man gespannt sein. Es klingt
vielversprechend, weil Restriktionen
oder Empfehlungen, wie sie in Eng-
land für U-11-Spieler erfolgten, nie
mit offenen Armen aufgenommen
werden und weil ein Kopfballverbot
zu kurz gedacht ist. Keine Kopfbälle?
Sind auch keine Lösung.
Also: Vielleicht einfach mal den
Ball flach halten? Warum nicht? Zu-
nächst mit Blick auf das gesamte
Thema, das zwar Seriosität
und Respekt erfordert,
aber keine Panikmache
rechtfertigt, wie fehlende
Beweise zeigen. Aber auch
im Wortsinn: Nicht umsonst
werden Kinder geschult, im
Spielaufbau flach zu passen,
keine planlosen, langen Bälle zu
bolzen. „Hoch und weit bringt Si-
cherheit“ mag vereinzelt zutreffen,
ist aber ausbildungstechnisch ein
Spruch für die Mottenkiste. Markus
Hirte, beim DFB für die Talenförde-
rung mit zuständig, verweist auf eine
bereits bestehende Spielform, die
Kopfbälle fast ausschließt: „Ein guter
und wichtiger Aspekt ist Funino.
Kinder sollen mit dem Fuß spielen.
Auf Minitore, keine Flanken, keine
langen Bälle, keine Kopfballduelle,
keine Abschläge.“ Doch spätestens
ab der U12 beginnt der reguläre Liga-
betrieb. Was dann, Fußball wirklich
ohne Kopfbälle, wie sinnvoll ist das?
„Grundsätzlich“, so Hirte, „wäre es
ein komplett anderes Spiel. Als un-
sinnig würde ich es nicht erachten,
aber man müsste sich intensiv da-
mit auseinandersetzen, ob man so
eine gravierende Veränderung eines
etablierten Spiels wirklich will. Aus
sportlicher Sicht sage ich: Erst mal
alle anderen Mittel ausschöpfen.“
Auch in der U12 müssen Kopfbälle
zwangsläufig keine Hauptrolle ein-
nehmen: „Da muss der Fußball sys-
tematisch entwickelt werden.“ Was
nicht ausschließe, den Kindern ein
sauberes Kopfballspiel zu vermitteln.
Verharmlost werden sollte den-
noch nichts. Prof. Dr. Helmich: „Stu-
dien weisen darauf hin, dass der Fuß-
ball – und daher sehr wahrscheinlich
Kopfbälle – zu Veränderungen im
Gehirn führen, insbesondere zu Ver-
änderungen in der Mikrostruktur
des Gehirns.“ Von einer Helmpflicht
(„Helme erhöhen eher die Risikobe-
reitschaft und damit das Vorkommen
von Gehirnerschütterungen“) rät er
aber ebenso ab wie Prof. Dr. Meyer:
„Denn herkömmliche Helme wür-
den am ehesten Schädelfrakturen
verhindern, die aber extrem selten
und nicht das eigentliche Problem
sind. Gehirnerschütterungen lassen
sich nur mit aufwändigen Helmen re-
duzieren, die das gewohnte Fußball-
spiel in einer Weise verändern, wie
es kaum akzeptiert werden dürfte.“
Kopfbälle sollten also erlaubt
bleiben, ein sensibler Umgang mit
Köpfchen schadet aber auch keinem
Thema. Anders als bei jenem Spiel in
England: Ein Zehnjähriger köpfte den
Ball, der im Aus gelandet war, extra
zurück aufs Feld. Kindliche Sponta-
neität eben. Dass Erwachsene dies
mit Beifall und Lachen quittierten,
zählte an diesem speziellen Tag wohl
auch zum dunklen Sinn des Fußballs
für Humor. THOMAS BÖKER